Mysterium Handtasche

von praktisch zu schön und wieder zurück
Die „Mini-Bag“ um die Hüfte – links: Dublin 1904, rechts: vom Instagram-Account nordicstylereport, 2021

Glaubt man einem Klischee, schütteln Männer immer wieder den Kopf darüber, welche Fülle an Gegenständen Frauen in ihren Handtaschen mit sich tragen (das VICE-Magazin lüftete wagemutig einmal dieses Geheimnis: Der Irrsinn, den Frauen in ihren Handtaschen rumschleppen (vice.com). Demgegenüber beklagten sich Herren um 1900 häufig über die Tollpatschigkeit des schwachen Geschlechts, das eben keine solche Handtasche besaß: Die Damen mussten im Theater oder in der Bahn alle mitgebrachten Dinge auf dem Schoß aufbewahren, sodass beim Aufstehen alles auf den Boden fiel. Dazu muss bemerkt werden, dass die Wahrscheinlichkeit beim Aussteigen aus der Straßenbahn oder der Kutsche zu stolpern in diesen Jahren recht hoch war: Zum einen hatten selbst Straßenkleider lange Schleppen, zum anderen hielten Frauen oft ein Kind an der einen Hand, in der anderen einen Schirm und ihre Besorgungen – nicht zu vergessen der große Hut, der beim Windstoß festgehalten werden musste. Zwei Arme konnten da kaum reichen.

Von einem geräumigen Rucksack konnten die Damen der Jahrhundertwende zwar nur träumen, kleinere Formen von Handtaschen gab es zu diesem Zeitpunkt aber schon lange. Die frühesten, bis heute erhaltenen Beutel, die man im weitesten Sinne als Tasche bezeichnen könnte, stammen aus dem späten 16. Jahrhundert. An einem Gürtel befestigt dienten sie als lederner Geldbeutel oder um duftende Kräuter zu transportieren, die unangenehme Gerüche überdecken sollten. Auch in den folgenden Jahrhunderten hatten die Zugbeutel und Börsen diverse Zwecke: etwa die Aufbewahrung von Spielfiguren bei Hofe, von Strickzeug für Biedermeier-Damen oder von wichtigen Dokumenten wie Briefen. Was geblieben ist, ist nicht nur die Bezeichnung „Brieftasche“ für den Geldbeutel, sondern auch die Funktion der Tasche als Statussymbol: Durch aufwendige Stickereien mit Gold- und Silberfäden auf kostbarem Gewebe trugen sie das wertvolle Innere auch nach außen.

Während in der Männerkleidung schon seit der Renaissance praktische Taschen eingesetzt waren (über Männertaschen wäre ein eigener Text zu schreiben), wurde dies für Frauen erst ab dem frühen 18. Jahrhundert flächendeckend eingeführt. Bis zu 40 cm lange Leder-, Seiden- oder Wollteile versteckten sich unsichtbar über zwei Jahrhunderte unter den mehrschichtigen Kleidern auf Höhe der Taille. Durch einen seitlich eingenähten Schlitz konnte die umgebundene Tasche erreicht werden. Ab ca. 1800 entwickelte sich dann bereits eine Vorform der Handtasche, die sozusagen extern und für alle sichtbar an der Hand oder am Arm getragen wurde. Man nannte sie wegen ihrer lächerlichen Größe gerne Ridicules (frz. ridicule = lächerlich), obwohl sie eigentlich réticules hießen, abgeleitet vom lateinischen Wort reticulum: kleines Netz. Dieser Bezeichnung entsprechend waren Ridicules oft gestrickt oder gehäkelt, sodass sie durch ihr feinmaschiges Netz neugierigen Männern einen Blick auf den Inhalt gestattet hätten. Der unterschied sich übrigens gar nicht so sehr von dem der heutigen durchschnittlichen Handtasche: Frauen brachten darin Geld, Spiegel, Schlüssel, ein Taschentuch und – ähnlich wie ein kleines Parfüm – ein Riechfläschchen unter.

Das vom Handgelenk baumelnde Ridicule (auch Pompadour genannt) wurde in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wieder modern – wie so oft erlebten die Marotten der Großmütter eine Renaissance. Dass ein hundert Jahre alter Taschentrend just um 1900 wieder modern wurden, hat den einfachen Grund, dass zu beiden Zeitpunkten ein so enganliegender Rock aus dünnem Stoff modern war, dass die sonst eingenähten Beutel die ganze Silhouette mit unschönen Beulen verdorben hätten. Allerdings wurde der Nutzen solcher Täschchen diesmal von vielen Seiten bemängelt, immerhin waren sie sehr klein und dementsprechend wenig praktisch. 1913 schreibt eine Frau aus Berlin-Charlottenburg daher missmutig in einer Zeitschrift: „Die Taschen haben […] ungewöhnlich selten dem entsprochen, was der Natur einer Tasche entsprechen sollte, nämlich: erstens daß sie da ist, zweitens daß man sie findet, drittens daß man etwas hineintun kann.“ Die zitierte Dame schlägt nun etwas sehr vernünftiges vor: Wie bei den Männern längst üblich, sollten Jacken und Mäntel über Brusttaschen verfügen, wo vor allem Geld sicher verwahrt ist. Erst langsam, im Verlauf des 1. Weltkriegs, wurde auch die Damenkleidung praktischer und alltagstauglicher, wie diese Entwürfe zeigen:

v.l.n.r.: Entwurf für ein Hauskleid mit Taschen, Jacke mit Taschen (beide von Maria Winterberg aus Köln, 1914), Tageskleid mit Taschen 1916, alle Modelle aus der Zeitschrift Neue frauenkleidung und Frauenkultur

Interessant ist, dass die schon im 17. Jh. übliche Praxis einer mit Gurt an der Hüfte befestigten Tasche heute wieder enormen Aufschwung erhält – diesmal aber als hippes Accessoire nach außen getragen. Man nennt sie zuweilen noch Bauchtasche, obwohl sie seit etwa 2019 präferiert „cross-body“, also diagonal und damit eher auf Höhe der Brust getragen wird. Zudem etabliert sich seit kurzem die Gürteltasche (Belt-Bag) oder „Mini-Bag“, die noch viel mehr an die unter dem Kleid befestigten Beutel der frühen Neuzeit erinnern. Woher dieses Bedürfnis nach einer um die Körpermitte geschnallten Tasche kommt, die viele bisher nur zu ihren Outdoor-oder Festival-Outfits trugen, kann wie bei vielen aktuellen Trends auch mit dem Stichwort Corona-Pandemie erklärt werden. Die allgemeine Tendenz zu Bequemlichkeit paarte sich mit den plötzlichen Wander- und Spaziergeh-Exzessen und übertrug sich natürlich auch auf den Bereich der Accessoires. Angedeutet wurde dieser Trend aber schon vorher, etwa als man immer mehr Turnbeutel aus Jutestoff am Rücken junger Leute baumeln sah. Die funktionale Bauch- und Gürteltasche hat es allerdings bis in die Glamour-Welt geschafft, denn auch möglichst extreme Stilbrüche sind ein Phänomen dieser Jahre.

Gleichzeitig ist ein weiteres Revival zu beobachten: Kleinformatige Taschen mit kurzem Schulterriemen wie in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren sind bei der jüngeren Generation wieder beliebt. Denkt man mehrere Epochen zusammen, offenbart sich, wie die jeweilige Tasche immer anders am Körper positioniert wurde: Am Handgelenk, frontal an der Taille (bzw. über dem Bauch), seitlich an der Schulter mit unterschiedlich langen Riemen, auf dem Rücken, oder mit dem Henkel über der Armbeuge. Während die eine Trageweise den Tascheninhalt möglichst körpernah von der Umwelt fernhalten soll, nähert sich eine Tasche über einem abgewinkelten Arm einem in den Raum greifenden Aushängeschild an. Sogenannte It-Bags, meist mit glitzerndem Logo von namhaften DesignerInnen, eignen sich dazu am besten und halten sich seit dem späten 20. Jahrhundert als Lieblings-Accessoires der Reichen und Schönen. Katja Eichinger verlor sich in ihrem Buch „Mode und andere Neurosen“ gar in Freudianischen Interpretationen und setzte Designer-Handtaschen in Analogie zu weiblichen Genitalien. Vielleicht wäre der bescheidenere Vergleich zu Geldanlagen passender.

Wer das verstärkte Aufkommen von kleinem Rucksack, Turnbeutel und Bauchtasche kombiniert, dem wird eines klar: Frauen bevorzugen gerade wieder, ihre Hände frei zu haben und von unnötigem Ballast befreit zu sein. Die extremste Form der Reduzierung ist darin veräußerlicht, dass viele nur noch ihr multifunktionales Smartphone an einer Schnur befestigt um die Schulter oder den Hals tragen. Vielleicht ist es jetzt an den Männern, große Taschen mit mysteriösem Inhalt zu füllen.


Recherche-Hilfe:

V&A · Women’s Tie On Pockets (vam.ac.uk)

Neue Frauenkleidung und Frauenkultur 1910/1913/1914/1916

„Taschen. Eine europäische Kulturgeschichte 1500-1930“, hrsg. von Renate Eikelmann. Ausstellungskatalog München 2013.

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