Mode in Umbruchzeiten

Wie sich Krisen auf die Bekleidungs-Industrie auswirken

[click for english version]

Diese „Accessoires“ stehen symbolisch für zwei unterschiedliche Krisenzeiten: Die Pickelhaube und der Hausschuh

Der in diesem Text vorgenommene Vergleich zwischen der derzeitigen Corona-Pandemie und dem 1. Weltkrieg mag angesichts der unterschiedlichen historischen, politischen und strukturellen Umstände unpassend erscheinen. Bei beiden Ereignissen handelt es sich allerdings um Ausnahmesituationen für die Gesellschaft, die über einen mehrjährigen Zeitraum nicht nur viel Leid ertragen, sondern auch ungewohnte Einschränkungen hinnehmen muss(te). Bei der ständigen Konfrontation mit dem Tod und einem auf das Nötigste reduzierten Alltagsleben stellt sich die Frage, ob es überhaupt legitim ist über Nichtigkeiten wie Mode nachzudenken. Wie die Erfahrungen der Jahre 1914-1918 zeigen, lautet die Antwort ja. Nicht nur ist die Beschäftigung mit modischen Veränderungen eine willkommene Abwechslung, die an die sorgenlosen vergangenen Jahre erinnert. Vielmehr ist sie dringend notwendig, um auf ernstzunehmende wirtschaftliche und soziale Mechanismen adäquat zu reagieren und in der Folge zum nachhaltigen Umdenken anzuregen.

Begeben wir uns zunächst gedanklich zurück in das Jahr 1916, um uns ein Bild von der Mode-Situation in Deutschland während des ersten großen Krieges seit fast fünfzig Jahren zu machen. Durchaus herrschte Knappheit bei Textilien, deren Produktionsstätten für den Krieg umgerüstet worden waren und nach der britischen Seeblockade vor allem mit dem Mangel an Baumwolle zu kämpfen hatten. Rationierungen zwangen zur vernunftvollen Sparsamkeit, aber auch zu kreativen Ersatz-Lösungen wie der Herstellung von Kleidung aus Papier. In den ersten Jahren war nicht nur der Weg nach Paris und damit zum Einkaufs- und Inspirationsort für alle deutschen Modelle abgeschnitten, auch waren die dortigen Modehäuser zeitweise ganz geschlossen. Viele Modeschöpfer waren zum Kriegsdienst eingezogen worden, sodass Kollektionen nur in reduziertem Umfang gezeigt werden konnten. Die heute nur zu gut bekannten Reisebeschränkungen, die damals ebenso herrschten, verhinderten Kundschaft aus dem Ausland.

Eine in Corona-Zeiten bekannte Frustration: „Wozu macht man sich eigentlich so schön! Die mich sehen, sehe ich nicht und den ich sehe, der sieht mich nicht.“

Kostbare Couture-Kleider wurden aber – wie glitzernde Party-Outfits während Corona – sowieso nicht gebraucht. Es gab kaum noch Anlässe, sie zu tragen: Bälle fanden nicht statt, Theater blieben geschlossen. Zwar öffneten in Paris im Winter 1916 wieder vier Theater, allerdings verbot die Regierung das Tragen von Abendkleidung – bis Kriegsende durften Vorstellungen nur in Straßenkleidung besucht werden. Das Gebot, so wenig Material wie möglich zu verwenden und die plötzlich notwendig gewordene Berufstätigkeit der Frau führten schließlich zu einer neuen Linie, die sich gänzlich von den bisherigen unpraktischen Gesellschaftskleidern unterschied. Ungewohnt schnell hatten sich Schnitte vereinfacht und Röcke verkürzt, um der Frau im Arbeitsalltag als Krankenschwester, Hafenarbeiterin und in der Fabrik mehr Bewegungsfreiheit zu ermöglichen. Sogar Hosenuniformen, 1914 noch völlig undenkbar, wurden als zweckmäßig akzeptiert. Damit war der bekannten schmalen Silhouette der 1920er Jahre und mit ihr der beruflichen Emanzipation der Frauen der Weg gebahnt worden. Eine sinnvolle Entwicklung nahm also notgedrungen im Krieg ihren Ausgang.

In Berlin witterte man in der Unerreichbarkeit von Pariser Mode derweil eine einmalige Chance: Der schon lange gehegte Wunsch nach einer „Deutschen Mode“, nach der Unabhängigkeit vom französischen Feind in Sachen Kleidung, sollte endlich erfüllt werden. Die Deutschen wollten modische „Fremdtümelei“ ein für alle Mal ausmerzen und sahen in der Ankurbelung der heimischen Industrie ein nationales, volkswirtschaftliches Ereignis von höchster Wichtigkeit. Zwar entstanden eifrige Ideen, Verbände und Veranstaltungen für eine dem schlichten deutschen Wesen entsprechende Mode, aber so mancher Geschäftsmann blieb skeptisch. Eine völlige Neuausrichtung und Abspaltung im Handel von der bisher so erfolgreichen Pariser Mode hätte Einbußen für die lukrative Massenkonfektion bedeutet. Und doch mündeten die hier begonnenen Anstrengungen in den 1920er Jahren im Erfolg des „Berliner Chic“, der sich neben Paris und Wien eine Spitzenposition erobern konnte.

„Es ist eine Pause in der Weltmode eingetreten, der bewunderte Apparat steht still, wir sind zur Selbständigkeit gezwungen. […] Diese Pause in der Weltmode kommt uns gelegen, um den Willen zur deutschen Form Tat werden zu lassen.“

Fritz Stahl: „Deutsche Form. Die Eigenwerdung der deutschen Modeindustrie“, 1915, S. 20

Zurück in die Jahre 2020/21: Was geblieben ist, sind die ökonomischen Interessen an und in der Modebranche. Statt aber wie noch 1915 das kreative Potential und die Produktion auf Biegen und Brechen innerhalb der nationalen Grenzen halten zu wollen, hat heute die Globalisierung so stark Einzug erhalten wie nie zuvor. Die Produktion der meisten Modelabels findet im fernen Ausland statt, aber auch in Europa dominieren die Stichworte Ausbeutung und Hungerlöhne die Schlagzeilen, wenn es um die Textilindustrie geht. Schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs gab es soziale Ungerechtigkeit im Produktionssektor: So beklagt sich 1915 Else Raydt, die an einer Kunstgewerbeschule die Fachklasse für Frauenkleidung leitete, dass Paris seine kreativen Köpfe gut bezahle, in Berlin aber „ein Heer jämmerlich bezahlter Heimarbeiterinnen für den Siegeszug der französischen Mode“ schuftete. Diese Wertschätzungs-Diskrepanz zwischen Entwurf und Ausführung ist bis heute geblieben.

Während der langen Lockdown-Phasen steht das Modegeschäft im Einzelhandel weitestgehend still. Einen wirklichen Mangel verspürt aber kaum jemand. Überfüllte Lager wegen Milliarden unverkaufter Artikel und platzende Altkleider-Container, die von der Ausmist-Wut der BürgerInnen zeugen, verbildlichen vor allem eines: Wir produzieren und besitzen weit mehr, als wir brauchen könnten. Dass man mehrere Monate ohne den Erwerb eines neuen Kleidungsstücks problemlos überlebt, hat einigen die Augen geöffnet. Die Corona-Pandemie hat ebenso wie die blockierten Handelswege des 1. Weltkriegs gezeigt, dass die Modebranche sich ändern kann, wenn sie nur will. Der Trend geht in allen Bereichen zur Entschleunigung. In der High Fashion werden Zweifel am Rhythmus des Fashion-Week-Kalenders laut, der sich längst meilenweit vom realen Tempo der Jahreszeiten entfernt hat. In der Low Fashion mehren sich die Ideen für eine Kreislaufwirtschaft; second-hand findet steigenden Absatz, statt neu zu kaufen mietet oder repariert man alte Kleidung. Übrigens gaben Frauenzeitschriften 1918 bereits Vorschläge, wie man die Militärwäsche der heimgekehrten Männer umarbeiten und daraus etwa ein Hauskleid für die Frau anfertigen könnte.

Altkleider-Berge – die Grenzen sind dicht, die Textilien können kaum noch weggebracht werden, Quelle: pnp.de

Trotz der katastrophalen Umstände haben die Modeentwicklung und der Konsum während des Krieges nie eine absolute Pause eingelegt, sondern sie passten sich an. Die Modejournale berichteten weiter fleißig vom neuesten Schrei, auch wenn der damals „feldgrau“ oder „Uniform-Chic“ hieß, ähnlich wie heute Hausschuhe, Jogginghosen und bunte Masken ungewohnt reißenden Absatz finden. Die Krise forderte neue kreative Lösungen, die schnell gefunden wurden. Neben der DIY-Bewegung im Privaten hat auch die Welt der Laufstege sich an neue Arten der Präsentation gewöhnt. So bekam das Medium Modefilm einen kräftigen und verdienten Anschub, als klassische Shows vor großem Publikum unmöglich wurden.

Viel wird aktuell über das „danach“ spekuliert. Folgt aus der modischen Zurückhaltung mit tristen Farben bald eine ähnlich glitzernd-schillernde Gegenbewegung wie in den 1920ern? Quellen berichten, dass heimkehrende Soldaten Ende 1918 ihre Frauen mit kurzem Pagenschnitt und simpler Kleidung kaum wieder erkannten. Wer weiß, vielleicht wundern auch wir uns bald über das modische Gesellschaftsbild, sollten wir uns irgendwann wieder zurecht machen, um ausgelassen und unbekümmert aufeinanderzutreffen.


Recherche-Hilfe:

Rasche, Adelheid (Hrsg.): „Krieg und Kleider“, 2014

Ein Kommentar zu “Mode in Umbruchzeiten

Hinterlasse einen Kommentar

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten