Oversize versus perfekte Passform

Sind Konfektionsgrößen aus der Mode?

Modewellen bewegen sich gerne zwischen Extremen. Alles dazwischen erfährt zu wenig von der Aufmerksamkeit, die die Mode nährt. Neben kurvenbetonender Kleidung (siehe Beitrag Die Kardashian-Silhouette) setzt sich in der Frauenmode flächendeckend oversize bei allen Kleidungsstücken durch. Die deutsche Übersetzung „Übergröße“ wird in der Massenmode hingegen vermieden, da sie die Assoziation mit Übergewicht und Unförmigkeit wecken könnte. In den 1980er und 1990er Jahren zählten oversize-Teile wie die Baggy-Pants zur Jugend- bzw. Hip-Hop-Kultur, die sich von den USA nach Europa ausgebreitet hatte. Mit Ausnahme von Ikonen wie Missy Elliott betraf sie damals vornehmlich Männer. Heute hat sich der überdimensional-Trend zunehmend auf die Frauenmode verlagert – das Tragen von bewusst zu großen, zu langen und zu weiten Kleidungsstücken beschränkt sich dabei weder auf das bevorzugte Musikgenre noch auf einen bestimmten Anlass.

Aber wozu kauft man sich Kleidung, die mehrere Nummern zu groß ist? Über Jahrhunderte hinweg zahlten die Menschen doch genau dafür viel Geld – dass ihre Kleider „wie angegossen“ passten. Bis heute leisten sich Männer den Gang zum Herrenausstatter, um sich ihre Anzüge maßschneidern zu lassen. Auch bei Frauen war bis ins 20. Jahrhundert die perfekte Passform das Gebot der Stunde, um die Körperlinien möglichst genau herauszuarbeiten. Der erste Schritt jedes neuen Auftrags bei der persönlichen Schneiderin war das zeitaufwendige Maßnehmen, das mitunter den Preis des späteren Kleids rechtfertigte. Nur so konnte garantiert werden, dass es sich an den Körper anschmiegte oder bei korpulenteren Damen die entsprechenden Stellen verhüllte.

Die Schneiderin Marie Thierbach nimmt Maß bei ihrer Kundin, 1912,
Quelle: Neue Frauenkleidung und Frauenkultur, digitalisiert von der BLB Karlsruhe

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begann das Zeitalter der Konfektion, also die Produktion auf Vorrat für eine unbestimmte Kundschaft. Es war die Geburtsstunde für die Mode von der Stange. Je mehr sich die Normierung und damit die Massenware durchsetzte, desto wertvoller wurde die Maßschneiderei. Um 1910 entstand daher in England das Prädikat „tailor made“, das tadellosen Sitz statt Standardgröße versprach. Noch heute ist der individuelle Zuschnitt das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen der Prêt-à-porter und der Haute Couture, also der hohen und exklusiven Schneiderkunst.

Louis Vuitton, Herbst/Winter-Kollektion 2021/22, Quelle: Harper’s Bazaar (Imaxtree)

Dass aktuell XXL-Hosen und XXL-Hemden für Frauen mit eigentlich kleinerer Konfektionsgröße in sind, kann mit zwei Aspekten zusammenhängen. Erstens: Die Pandemie-Mode hat die Bequemlichkeit zum willkommenen Kult werden lassen. Hinter dem elegant wirkenden Begriff Loungewear verbergen sich Jogginghosen, Sneaker und Sweatshirts. Wer früher mit solchen laissez-fairen Kleidungsstücken im beruflichen Kontext den Ruf der fehlenden Professionalität fürchten musste, kann nun nicht nur im Home-Office, sondern auch auf der Straße beruhigt das Pyjama-Feeling genießen. Auch das lange von Fashionistas vorgebetete oberste Credo des oversize-Stylings, man müsse mindestens ein schmales Teil zum weiten kombinieren, ist mittlerweile revidiert worden. Zweitens: Der oversize-Look ist als Gegenteil zur hautengen Sexiness ein Statement des neuen Feminismus, der sich gegen Übersexualisierung und Selbstdefinierung qua Körperlichkeit wehrt. Bei wem die Kleidung am Körper „schlabberte“, galt lange als unmodisch oder schien womöglich Unsicherheiten kaschieren zu wollen. Heute wird dieses Negieren von Äußerlichkeiten, dieses geheimnisvolle Verschwinden hinter einem dickhäutigen Panzer gerade von jungen Leuten mit Vorbildern à la Billie Eilish gefeiert. Das Verhüllen physischer Merkmale schafft eine Gleichheit, die genau von dieser Generation dringend gefordert wird. Auch einige DesignerInnen reagieren mit ihren Kreationen auf aktuelle Umstände: Die beschützende und von der Außenwelt abschirmende Funktion von Kleidung nahm sich etwa Nicolas Ghesquière (Louis Vuitton) für seine Herbst/Winter-Kollektion zum Vorbild.

ZeitgenossInnen des 19. und 20. Jahrhunderts würden beim Anblick der „all-over-Oversizer“ sicherlich einen Sittenverfall diagnostizieren oder denken, SchneiderInnen und NäherInnen wären in den Streik getreten. Und tatsächlich ist ein solcher Zusammenhang nahe an der Realität. Was lässig und relaxed wirkt, zeugt gleichzeitig von der Situation in der Modeproduktion. Gutsitzende Kleidung setzt handwerkliche Perfektion und Sorgfalt voraus und ist daher nicht gemacht für tausendfache Schablonierung. Die Fast Fashion allerdings arbeitet im Akkord mit ungelernten ArbeiterInnen. Der oversize-Look eignet sich bestens zur billigen Herstellung am Fließband, bei der die richtige Position der Abnäher entsprechend einer bestimmten Größe zur Nebensache wird. Am Ende profitiert davon höchstens die Änderungsschneiderei.

„Die industrielle Nachschaffung von losen Moden erfordert viel weniger Zeit und Genauigkeit als die Arbeit einer gutsitzenden Kleidung. Man machte es insbesondere durch die schlappigen Blusen der letzten Zeit den Schneidern und Schneiderinnen, aber vor allem der Konfektion möglichst bequem, die schnell […] aufgekommene Modesilhouette ohne besondere Mühe herzustellen. Die Frau war der betrogene Teil. Ihre Kleider nahmen an Arbeitsaufwand ab, stiegen aber gleichzeitig beträchtlich im Preise.“

Norbert Stern: „Mode und Kultur“ 1915, S. 31.

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