Die Kardashian-Silhouette

Scheinbar längst überwundene Körper-Ideale kehren zurück

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links: L’Art de la Mode, 1905 // rechts: Kim Kardashian bei der Met-Gala 2018

„Wir wissen heute nicht, wie weit die Bestrebungen für eine neue Körperkultur uns führen werden. Aber das wissen wir wohl, […] dass vor allem unsere Auffassung vom weiblichen Körper eine völlige Umwandlung erfahren muss.“

Else Wirminghaus, in: „Die Frau und die Kultur des Körpers“, 1911

Die körperfixierte Instagram-Elite betont aktuell möglichst jede Wölbung mithilfe von hautengem Stoff. Allerdings geschieht das weniger mit Latex und Leder wie noch auf den Prêt-à-porter-Laufstegen der 1990er Jahre, sondern eher mit atmungsaktivem Jersey in Form von sportlichen „tights“. So werden die weiblichen Rundungen, die seit wenigen Jahren vor allem unten herum wieder zum Ideal der Stunde wurden, perfekt in Szene gesetzt. Am deutlichsten wird das am Kardashian-Jenner-Clan, die mit Kim und Kylie hoch oben in den Top 10 der beliebtesten Instagram-Accounts weltweit mitmischen. Deren in unzähligen Bikini-Bildern zur Schau gestellte Silhouette grenzt an Abnormität: Üppige Brüste, ein überbreiter, wohlwollend ausladender Hintern, dazwischen: eine kaum zu entdeckende Wespen-Taille. An welchen Stellen nachgeholfen wurde, ist hier vollkommen unerheblich.

Aber ist diese Körperform und mit ihr dieses Frauenbild wirklich so weit entfernt von Normalität und weiblichem Alltag, wie es auf den ersten Blick scheint? Immerhin scheinen die Frauen doch ihren Weg zurück zur Natürlichkeit gefunden zu haben – #nobra, #nomakeup? Ein Blick zu den weiblichen Stars und Sternchen gerade in den USA zeigt: Statt ein Revival der letzten Jahrzehnte, wie so oft in der Mode geschehen, erleben wir offensichtlich ein Revival des vorletzten Jahrhunderts. Besonders die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts definierte sich kostümgeschichtlich nämlich durch eine extrem künstliche Silhouette mit dem Ziel die weibliche Körperform zu überformen. Dabei halfen beispielsweise die Tournüre und und natürlich das Korsett mit teils sehr enger Schnürung. Mitte der 1870er Jahre entstand mithilfe von Polstern und Schienen der Cul de Paris, zu Deutsch Pariser Hintern, der selbigen so bemerkenswert ausstaffierte, dass man wohl ein Glas darauf hätte abstellen können. Selbstverständlich trat diese Form der Silhouette im Verlauf der Jahrhunderte nicht zum ersten Mal auf – die Mode ist und bleibt sprunghaft und repetitiv. Oder wie der zeitgenössische Kulturtheoretiker Max von Boehn diesen Umstand erfasste: „Dieses Anschwellen und Abnehmen kehrt so regelmäßig wieder, wie im Meer Ebbe und Flut.“

Zweite Phase des Cul de Paris, 1787

Kleidungsstücke wie der Reifrock und das Korsett hatten in ihrer textilen Kooperation eines zur Aufgabe: die weiblichen sekundären Geschlechtsmerkmale hervorzuheben und die dadurch entstandenen Unannehmlichkeiten im Alltag der Trägerinnen pfleglich zu ignorieren. Die nach außen getragene Unnatürlichkeit kulminierte ab 1895 in der sogenannten sens ventre-Linie. Wortwörtlich sollte sie mithilfe des Korsetts den Bauch wegschnüren, um mit dem entstandenen Hohlkreuz eine S-förmige Silhouette zu erzielen. Der Effekt ist ein simpler: Ist die Körpermitte schmal, wirken Hüften und Brüste umso üppiger.

SENS-VENTRE-LINIE, AUS: DER BAZAR, 1898/ HEFT 1
Korsett um 1908

Die beschriebenen Unterkleider des 19. Jahrhunderts erinnern sehr stark an die heute beliebte shapewear, mithilfe derer Frauen ihre Speckröllchen wegzuzaubern hoffen. Im September 2020 lancierte niemand geringeres als Kim Kardashian eine Dessous-Linie für Schwangere, die laut ihrer Schöpferin „Halt“ und „Unterstützung“ geben sollte. Von der social-media-community erntete Kardashian prompt einen shitstorm. Man warf ihr vor, mithilfe der Dessous den Babybauch der Schwangeren verstecken zu wollen. Sens ventre in anderen Umständen zu realisieren gestaltet sich tatsächlich etwas schwierig und übertrifft beinahe die Perversion der Jahre um 1900. Während der Reformbewegung 1885-1914, die unter anderem natürlichere und zweckmäßigere Kleidung propagierte, wurde die Mode angesichts des Geburtenrückgangs zum großen Angriffspunkt. Heinrich Pudor, einer der Pioniere der Freikörperkultur, sah einen klaren Zusammenhang zwischen Fehlgeburten und der stützenden, organschädigenden Frauenkleidung seiner Zeit. Ganz so drastisch wurde Kardashians Vorstoß natürlich nicht gewertet.

Die ersten Worte aus dem Buch „Die Frau und die Kultur des Körpers“ (1911) von Else Wirminghaus, die sich für die Frauenbewegung engagierte, waren die folgenden: „Wir wissen heute nicht, wie weit die Bestrebungen für eine neue Körperkultur uns führen werden. Aber das wissen wir wohl, dass wir einer Zeit entgegen gehen, in der eine erhöhte und veredelte Körperkultur durchdringen wird, und dass vor allem unsere Auffassung vom weiblichen Körper eine völlige Umwandlung erfahren muss.“ Was würde die Autorin nun sagen, würde sie zufällig einer Kardashian auf der Straße begegnen? Sie wäre sicherlich enttäuscht und würde fragen, warum die zu ihren Lebzeiten aufstrebende Frauenbewegung so versagt hat. Doch man müsste ihr natürlich die ganze Geschichte erzählen: von den Errungenschaften der weiblichen Körperkultur, von der sexuellen Befreiung bis hin zur laut gewordenen „me-too-Debatte“, insgesamt also von der Wehrhaftigkeit der Frauen gegen die Frechheiten des Patriarchats. Man müsste ihr verdeutlichen, dass die Kardashians sich bewusst für diese Präsentation ihrer Figur entschieden haben.

Frauen bestimmen heute weitgehend selbst, was und wie viel sie wann tragen und was sie jeweils damit bezwecken – selbst wenn sie gar nichts bezwecken wollen, weil ihnen Äußerlichkeiten wie Mode schlichtweg egal sind. Und auch das ist ein Statement, das den Zeitgenossinnen von Else Wirminghaus noch völlig fremd war. Vor allem die nicht arbeitenden Frauen des Bürgertums definierten sich über ihre Garderobe und überboten sich gegenseitig in dem Versuch, damit potentielle Ehemänner zu beeindrucken. Eine Sache hat sich sicherlich geändert: Während Quellen vom Ende des 19. Jahrhunderts in verblüffender Eindeutigkeit verraten, dass hauptsächlich für den Mann die Betonung der weiblichen Kurven eine unausweichliche Grundvoraussetzung war, wird der Drang zur Ideal-Form heute von beiden Geschlechtern gleichermaßen befeuert.

Ein Kommentar zu “Die Kardashian-Silhouette

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